Im ZEN-Buddhismus gibt es den Begriff des Anfängergeistes. Gemeint ist eine grundlegende Geisteshaltung, welche ganz neue Erkenntnisse und Sichtweisen im Leben ermöglicht. Grundsätzlich geht es darum, dass wir alles im Leben vollkommen ohne Bewertung und Hintergedanken betrachten. Es gilt, eine Geisteshaltung zu entwickeln, gleich so, als würden wir alles zum ersten Mal sehen, hören. Nur so lässt sich die wunderbare Vielfalt der alltäglichen Dinge erfahren, nur so werden wir uns in jedem Moment des Wunders unseres Lebens bewusst.
Integrieren wir den Anfängergeist gleich einem Schatten in unsere (tägliche) Yoga-Praxis, können wir auch im Yoga den Wundern des Lebens immer wieder auf das Neue begegnen. Ganz gleich, ob es sich dabei um die Verbesserung deiner Atemtechnik, um dein mehr „bei dir bleiben“ in der Meditation handelt, als auch um deine körperliche Praxis, die sich stetig weiterentwickelt.
Manchmal kann es interessant sein – ohne tiefe Seufzer, ohne Melancholie – auf Vergangenes zurückzublicken. Denken wir z.B. an erste, prickelnde und zauberhafte Begegnungen mit Menschen, diese freudvollen Begegnungen können aber auch – mit uns selbst – auf der Yoga-Matte stattfinden 🙂 Ist es uns mit jedem Folgeschritt auf die Matte möglich, diesen Anfänger-Geist zu bewahren, stehen die Chancen gut, nicht ins Überhebliche abzudriften. Mehr dazu später.
Dem Zauber des Anfangs, ob es sich dabei um eine neue berufliche Aufgabe, eine Ausbildung, eine Reise in ein unbekanntes Land, oder um den ersten Schritt auf die Yoga-Matte handelt – gleicht einer Goldgräber-Stimmung. Wir können es kaum erwarten, bis die Schürfungen beginnen. Und es gibt einiges an Schätzen auszugraben!
Ich diesem Blog möchte ich die Aufmerksamkeit auf den Yoga-Anfängergeist lenken und dich fragen, wo deine erste Yoga-Begegnung stattgefunden hat? Wie lange ist das her? Wie hast du dich gefühlt? Warst du alleine, oder waren da auch andere Schüler zugegen? Wie war dein Lehrer/deine Lehrerin? Welchen Yoga-Stil hast du praktiziert? Konntest du dir bisher diesen Anfängergeist bewahren? Wofür „brennst“ du? Ich freue mich auf ein paar Zeilen von dir 🙂
Ganz gleich wie lange du praktizierst, jeder Schritt auf deine Matte, ist auch immer wieder ein Schritt zu dir. Im Yoga heißt es auch: Yoga mag vielleicht auf der Matte beginnen, aber Yoga endet niemals auf der Matte.
Die Frage ist: „Wie gehe ich im Alltag mit mir und meinen Mitmenschen um?“ Ich kann noch so zahm auf der Matte sein, alle Anweisungen brav befolgen, still und geduldig in meiner Meditation verharren, wenn ich mich im Alltag wie ein tollwütiger Hund verhalte, habe ich den Sinn der Yoga-Praxis nicht verstanden. Was gilt es also zu beachten?
Vom griechischen Philosophen Sokrates stammt das Zitat: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, das uns auffordert, ständig das zu hinterfragen, was wir eigentlich zu wissen glauben. Denn das, was ich heute noch für die (m)eine Wahrheit halte, wird sich vielleicht bereits morgen – spätestens aber in ein paar Jahren – schon wieder als ein Konzept meines eigenen Geistes erweisen.
Im Yoga ist das nicht anders, du weißt nicht, was die heutige Praxis für dich bereithält, was dir dein Yoga-Lehrer heute erzählt; und ist das wahr, was du hörst? Hinterfragst du das manchmal? Du weißt nicht, in welcher körperlichen Verfassung dein Körper heute ist, du weißt nicht, wie du dich am Ende der Yoga-Klasse fühlen wirst. Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich finde das ziemlich aufregend bzw. anregend! Denn möglicherweise hat sich in deiner Praxis etwas verändert, du bist kräftiger geworden, Atmung und Bewegung “tanzen“ stimmiger miteinander, du kannst in der Endentspannung leichter loslassen und somit entspannter genießen …
Ich erlebe in meinen Yoga-Klassen Seufzer der Erleichterung, wenn ich darauf aufmerksam mache, dass wir Yoga nur für uns selbst praktizieren, wir niemanden etwas beweisen müssen, und es keinen Sinn macht, uns mit anderen zu vergleichen, da wir alle unterschiedliche Körper und unterschiedliche Voraussetzungen haben. Höre auf deine innere Stimme, vertrau dir selbst! Erkenne Grenzen, nimm diese an und gehe erst dann einen Schritt in deiner Yoga-Praxis weiter, wenn du dein persönliches „go“ bekommst (ich „warte“ auf mein „grünes Licht“ in der Bauchgegend). Damit möchte ich dir nahelegen, dass – solange du dich in deiner Anfänger-, oder Basic-Klasse „zuhause“ fühlst, dort solange bleibst, wie es für dich stimmig ist. Ein guter Yoga-Lehrer wird dies respektieren und dich nicht drängen!
Das soll jetzt aber nicht bedeuten, dass wir es uns dort – wo wir gerade „stehen“ – zu bequem machen, wir bestimmte Yoga-Positionen einfach ignorieren (weil diese zu anstrengend sind, oder uns keinen Spaß machen), oder wir denken, diese oder jene Position schaffe ich sowieso niemals einzunehmen, darum probiere ich sie erst gar nicht aus. Bei auftretenden Schmerzen lösen wir Positionen sofort auf, ansonsten üben wir uns auch in herausfordernden Positionen mit Freude und Enthusiasmus! Denke an den Anfängergeist – dieser kann dich beflügeln, wenn du mal erschöpft und japsend auf deiner Matte liegst.
Wie wäre es, wenn du beim nächsten Mal – bevor du mit deiner Yoga-Praxis beginnst – dich genau von diesem Zauber des Anfangs, des Anfängers beflügeln lässt?
Ein schönes Zitat von Meister Eckhart (Theologe und Philosoph, 1260-1328, https://de.wikipedia.org/wiki/Meister_Eckhart): Und plötzlich weißt du: Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen.
Das bedeutet, irgendwann ist der Moment da, wo es Zeit ist weiterzugehen, wo wir spüren, dass sich unsere Praxis verändert, wir neue Impulse, neue Herausforderungen brauchen. Der Anfängergeist kann, sollte uns dabei erhalten bleiben. Dieser wird uns auch – wie oben bereits angesprochen – dabei helfen, nicht abzudriften, uns helfen, am „Boden zu bleiben“. Ganz gleich wie fortgeschritten wir in unserer Praxis sind, ob wir in der Lage sind komplexeste Positionen einzunehmen, wir stundenlang in der Meditation verweilen können, wir knapp wir vor der Erleuchtung (Bodhi) sind (bezeichnet im Buddhismus einen Erkenntnisvorgang, der auf dem vom Buddha gelehrten Erlösungsweg von zentraler Bedeutung ist. Das Wort stammt von einer Sanskrit-Wurzel, von der auch „Buddha“ (wörtlich „der Erwachte“) abgeleitet ist, https://de.wikipedia.org/wiki/Bodhi) – wir sind damit keine besseren, wertvolleren Menschen!
Ganz gleich, ob Yoga für uns „das einzig wahre Konzept“ ist, wir von seiner Wirkung zu 100% überzeugt sind, so wollen wir dennoch „am Boden bleiben“, uns unseren Anfängergeist bewahren und vermeiden, andere ungefragt missionieren zu wollen. Aber dazu ein anderes Mal mehr.
Ich begebe mich jetzt auf meine Fellmatte und übe mich in Shavasana (Totenstellung) 🙂
Alles Liebe & Namaste!
Astrid